Sozialaufgabe der Kirche
Sozialaufgabe der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche

Evangelische Akademie Bad Boll
19.-21.02.2010

Liebe Freunde Äthiopiens,

mit Freude habe ich zur Kenntnis genommen, dass die evangelische Akademie Bad Boll in dieser Tagung die vielschichtigen Probleme meines Heimatlandes in das öffentliche Bewusstsein bringen will und ich meine, dass die afrikanischen Staaten es wohl verdient haben, dass man sich mit ihnen intensiv beschäftigt.So möchte ich mich bei Herrn Falkenstörfer und Herrn Wagner bedanken, dass sie mir hier die Gelegenheit geben, meine Sichtweise da darzulegen.

Bevor ich aber überhaupt mit dem Thema beginne, möchte ich von einer kurzen Episode berichten, die  schlaglichtartig deutlich macht, dass europäische und afrikanische Maßstäbe sich keinesfalls decken. Der bekannte äthiopische Landstreckenläufer Heile Gebre Selassie hatte in einem Interview  bekundet, dass seine Familie arm war. Als sein Vater von dieser Bemerkung hörte, war er sehr erbost und erklärte, dass seine Familie nie arm gewesen sei und begründete dies damit, dass kein Mitglied seiner Familie je hungern musste. Der Vater von Heile Gebre Selassie, der als Läufer selbst sicher Hunderttausende von Euros verdient hat, war stolz auf  seine Leistung, der Familie immer genug Essen zur Verfügung zu stellen, also war er und seine Familie nicht arm. Die Familie hat ein Haus und genug zu essen.

Wir wissen, dass meine äthiopischen Landsleute nach europäischen Maßstäben in großer Armut leben und es ist die Frage, ob es einen großen Sprung vorwärts, also ein Aufholen gibt. Ich will es jetzt bei dieser Frage belassen, denn meine Aufgabe ist es, die Sozialaufgabe der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche darzustellen. Da unsere Kirche einer der ältesten Kirche der Christenheit ist, möchte ich, obwohl das Grundthema dieser Tage die Zukunft unseres Landes ist, weit in die Vergangenheit zurückgehen, einfach weil wir als orthodoxe Kirche aus unseren Erfahrungen in der Vergangenheit, eben aus unserer Tradition, die Kraft finden, uns der Gegenwart zu stellen.

Das Besondere an der äthiopischen Kirche liegt einmal darin, dass sie praktisch von Beginn an Staatskirche war; dass sie immer die beiden Extreme, gottesfürchtige Eremiten und kaiserliche Pracht und Macht unter ihrem Dach vereinen musste. Von den alten Palästen in Aksum, so bis 5-6 Hundert nach Christi, stehen heute nur noch die Ruinen, um 1000 versuchte der Kaiser in Lalibela durch den Bau der wunderbaren Felsenkirchen, die heute zu Recht zum Weltkulturerbe gehören, seine Herrschaft zu festigen. Vergeblich, denn die Dynastie der Zagu´e Kaiser wurde abgelöst durch die salominische Dynastie der Kaiser, die Salomo als ihren Stammvater ansehen. Zeitgleich mit dieser machtpolitischen Ereignis fand eine große Reform der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche statt, deren prominentester Vertreter Abba Tekle Haymanot ist. Im Endergebnis ist es Tekle Haymanot gelungen, den Kaiser dazu zu bringen, der Kirche 1/3 des Landes zur Verfügung zu stellen. . In Äthiopien ging die Eentwicklung nicht in Richtung auf riesige Latifundien, also auf den Aufbau

einer zentralisierter Macht der Kirche, sondern auf eine reale  Aufteilung des Bodens über das ganze Land, jede einzelne Pfarrei erhielt ihr Land. Die Priester und Diakone sowie die Deptara, also die Sänger im Gottesdienst erhielten zur Nutzung ein Stück Land, von dem sie durch eigene Arbeit leben konnten und so keinen weiteren Lohn brauchten. Da viel Land zur Verfügung stand, konnten viele in den Dienst der Kirche treten und im Endergebnis kann wohl gesagt werden, dass ein Drittel der Äthiopier in dem Dienst der Kirche standen und gut von dem Drittel des Landes leben konnten.   Hier möchte ich nur bemerken, dass die erwähnten Diakone ihre Aufgabe überwiegend in der Gestaltung des Gottesdienstes haben und sie dementsprechend die Weihen erhalten haben, keinesfalls aber karikative Aufgaben ausüben. Diese Grundstruktur blieb trotz Kriege u.s.w. ungefähr 1000 Jahre bestehen. Die Kirche stellte ihr Land ihren Mitarbeitern zur Verfügung, die dann von dem Ertrag ihrer Arbeit leben konnten und ernährte so ein Drittel der Bevölkerung. Da sich in dieser Zeit auch keine stabile kirchliche Hierarchie ausbildete, blieb es bei der kleinräumigen zersplitterten Aufteilung, ohne wirtschaftliche Machtkonzentration. Die Kirche erfüllte so ihre soziale Aufgabe über ein Jahrtausend  relativ zufriedenstellend. Die Stärke der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche liegt also keinesfalls in ihrer hierarchischen Struktur sondern in dem Grundsatz, dass die Kirche in der  einzelnen Gemeinde lebt, ein wahrhaft demokratisches Prinzip.

Diese Struktur konnte sich nicht in der jetzigen Zeit   bewähren, denn die Kirche wurde 1976 enteignet. Die Stabilität der wirtschaftlichen Situation der Kirche war mit einem Schlag weg. Wir wollen jetzt nicht die schwierige Zeit des Übergangs in Erinnerung rufen, denn es war eigentlich immer klar, dass die Kirche als Organisation, auch wenn sie seit 1959 autokephal ist, keinesfalls in der Lage war und ist, den Priestern, Diakonen und Deptara Gehälter zu zahlen.

Der Umstand, dass die in Diensten der Kirchen stehenden Menschen seit Jahrhunderten an 6 Tagen der Woche Bauern waren und am 7. Tag ihren heiligen Dienst verrichteten, rettete der Kirche ihr Überleben. Der äthiopische Staat garantierte jedem Bauern 2 Hektar Land zur eigenen Nutzung, nicht zum Eigentum, also sicherte nun nicht mehr die Schenkung des Staates sondern der Staat selbst die wirtschaftliche Basis der Diener der Kirche.

So kann es in Äthiopien dazu kommen, dass nach der Enteignung der Kirche und trotz der Wirren um den Patriarchen die Kirchen voll sind und sogar viele neue Kirchen gebaut werden oder in jüngster Verganganheit gebaut worden sind..

Aus meinen persönlichen Erfahrungen kann ich berichten, dass in Äthiopien, bei einer Rundreise die vielen neuen Moscheen auffallen. Die Moscheen fallen etwas mehr als die neuen Kirchen auf, weil sie häufig mitten im Dorf oder in der Stadt gebaut worden sind. Die Kirchen dagegen wurden traditionell typischerweise auf 

dem nächsten Berg gebaut, also außerhalb der  Dörfer oder Städte; es ist selbstverständlich für die äthiopischen Christen bis zu einer Stunde zum sonntäglichen Gottesdienst zu gehen. Die armen Äthiopier und die armen christlichen Gemeinden sind heute in Äthiopien in der Lage, neue Kirchen zu bauen, nicht aus von Außen fließenden Mittel, sondern aus eigener Kraft.


Der äthiopische Staat hat sich, möglicherweise als Beispiel für andere Staaten, entschlossen, eine große Lösung durchzuführen, nämlich jedem Bauern zu garantieren, dass er 2 Hektar Land zur eigenen Nutzung, nicht zu Eigentum, erhält. Die Kirche profitierte von dieser Regelung, denn da die Priester, Diakone und Deptara auch in früheren Zeiten das Kirchenland bearbeitet hatten, standen ihnen als Bauern so 2 Hektar Land zur Nutzung zur Verfügung. Das Alimentierungsproblem war somit dank der staatlichen Maßnahme für die Kirche gelöst.

Nach diesem langem Vorspann möchte ich zu dem Thema, die Sozialaufgabe der Kirche heute und in Zukunft kommen. Bei der Sozialaufgabe der Kirche denken wir hier in Europa automatisch an die Caritas (katholischer Bereich) oder an die Diakonie (evangelischer Bereich). Beide sehen ihre Wurzeln in der Beschreibung der Urchristen, wie sie uns in der Apostelgeschichte überliefert ist. Apg 2, 44 . Der Papst beschreibt dies in seiner Enzyklika wie folgt:Innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen darf es keine Armut derart geben, dass jemanden die für ein menschenwürdiges Leben notwendigen Güter versagt bleiben. So haben die großen Kirchen des Abendlandes im Grund parallel zur Kirchenstruktur die Diakonie oder die Caritas aufgebaut, um diesen Grundgedanken zu verwirklichen. Da das Abendland im Grunde wenig geschichtsbewußt ist, werden diese beiden Einrichtungen als selbstverständliche Ergänzungen der Kirchenstrukturen angesehen und überhaupt nicht beachtet, dass beide Einrichtungen erst Ende des 19. Jahrh. gegründet worden sind. In Bezugnahme auf die Diakonie und die Caritas wird den orthodoxen Kirchen  typischerweise immer wieder vorgeworfen, dass sie ihre soziale Aufgabe nicht erfüllen.

Es ist zuzugeben, dass  die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche weder in Deutschland noch in Äthiopien eine organisierte Struktur für soziale Aufgaben aufgebaut hat. Aber besonders im protestantischem Bereich ist zu betonen, dass der Aufbau einer Diakonie-Organisation eben nicht in erster Linie der sozialen Aufgabe sondern der missionarischen Aufgabe der Kirche zu verdanken ist.

In einer Kirche, die geprägt ist von in wirklicher Armut lebenden Mönchen und von Eremiten, wird man schwerlich erwarten können, dass die gleichmäßige Verteilung des Reichtums eine wichtige Rolle spielt. Wenn in Lalibela zum Beispiel bewusst ein Durchgang äußerst schmal gehalten wurde, in Anspielung auf das Bibelwort: Eher

geht ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel, so wird deutlich, dass die geistige Dimension des Christentums in Äthiopien über  die weltlichen Interessen dominiert. Wenn die Kirche reich ist, kann von ihr wohl zu recht verlangt werden, dass sie die  Bedürftigen teilnehmen lässt. Nun ist weder die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche in Äthiopien noch in Deutschland reich, da ist also kaum etwas, was an die Armen verteilt werden kann. Wenn ich aber noch einmal auf das Eingangsbeispiel zurückkommen darf, nach welchem ein Äthiopier nicht arm ist, wenn er genug zu essen hat, möchte ich auf die traditionelle Gestaltung des sonntäglichen Gottesdienstes hinweisen. Nach dem Gottesdienst trifft sich die Gemeinde in Äthiopien wie in Köln zum Essen, also erhalten alle Gemeindemitglieder sonntags ihr Essen, gleich ob arm oder reich. Während man in Deutschland im Grunde einen Ausweis braucht, der beweist, dass man arm ist; nur gegen eine Bescheinigung des Sozialamtes erhält man Möbel, ist das gemeinsame Mal nach dem


Gottesdienst  eine Bestätigung der Glaubensgemeinschaft. Man mag einwenden, dass  diese sonntägliche Speisung nur 15 % des Bedarfs ausmacht, dennoch ist  dieses gemeinsame Mal ein verbindlicher Ausdruck der Glaubensgemeinschaft und ein Akt der Diakonie oder Caritas, ohne eigene Organisationsstruktur eingebettet in die traditionelle Übung.

Für die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche ist es selbstverständlich den Auftrag der Evangelien, die Hungrigen zu speisen, real zu erfüllen. Ich möchte jetzt von den nach wie vor intakten Gemeindestrukturen vor allen Dingen auf dem Landes sprechen. Jeder kann sich in seiner Not an den Priester wenden, der wiederum die Gemeinde von der Notlage informiert und als selbstverständlich voraussetzt, dass dem Notleidenden beholfen wird, ohne dass eine Struktur des Helfen besteht.

Die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche unterhält  seit Jahrhunderten Kirchenschulen, hier lernen Jungen zwischen 14 ? 20 Jahren die traditionellen Gesänge der Kirche und werden in die traditionelle Dogmatik eingeführt. Für den Lebensunterhalt des Schülers muss seine Heimatgemeinde aufkommen. Wie die Gemeinde dies gestaltet, ist ihr freigestellt, jedenfalls muss der Schüler ein Dach über den Kopf und genug zu essen haben. Ich war selbst Schüler in Gondar, der alten Kaiserstadt und heutigen Bischofssitz und die Unterkunft ist nach europäischen Maßstäben äußerst spartanisch, aber ich war zufrieden. Heute versuchen wir durch Sammlungen in Deutschland den verschiedenen Kirchenschulen Äthiopiens Mittel zur Verfügung zu stellen, um auch heute noch den jungen Christen die Chance zu geben, ihren Glauben vertiefend kennen zu lernen. Unabhängig von dieser Unterstützung ist es nach wie vor die soziale Aufgabe der Heimatgemeinde, für den Lebensunterhalt der Schüler zu sorgen. Hier hat sich die soziale Aufgabe zu einer von der Tradition geforderten Verpflichtung verdichtet, wohlgemerkt, es gibt hier keine normativen Regeln, es ist
einfach so. Ähnliches gilt für die Eremiten, mit denen das Essen geteilt wird.

Gegen Ende möchte ich noch darauf hinweisen, dass wir entsprechend unseren Traditionen versuchen  unseren Glauben so real wie möglich zu gestalten, oder anders ausgedrückt, die geistige Kraft des Evangeliums in uns aufzunehmen und entsprechend zu handeln. Das Gebot der Barmherzigkeit, das Gebot der Nächstenliebe soll möglichst täglich erfüllt werden, also ist es für jeden Gläubigen die selbstverständliche Pflicht, Hungrige zu sättigen.
Wir sind zwar ein nach den üblichen Maßstäben armes Land, aber wir können typischerweise zweimal jährlich ernten, also haben wir genug Nahrungsmittel für alle.Es ist die selbstverständliche Pflicht eines jeden Christen, die Hungrigen zu sättigen und den Dürstenden  Wasser zu reichen. Leider ist in den 60-ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vieles falsch gelaufen, so dass die Welt erschreckt wurde von den Bildern der hungernden Kinder in unserem Land. Leider hat der Bürgerkrieg in unserem Land viele Versuche, die Lebensbedingungen meiner Landsleute zu verbessern, zunichte gemacht. Glücklicherweise
ist der Bürgerkrieg seit einigen Jahren beendet und vieles hat sich seitdem verbessert.

Die Mehrzahl der Äthiopier fühlt sich nicht arm, wenn sie genug zu essen haben und eine Wohnung haben. Die Kirche profitiert von der rigiden Landreform, da ihre Mönche, Priester, Diakone und Debtera von Alters her von Hauptberuf Bauern sind und nur an Sonntagen und Feiertagen ihr geistliches Amt ausüben. Die Kirche ist so fest im Volk verwurzelt und die Forderungen der Caritas oder der Diakonie werden wie selbstverständlich erfüllt. Da bei uns in Äthiopien nicht die Diakonie oder die Caritas organisatorisch von der Kirche getrennt worden ist, gehört die Caritas oder Diakonie zur selbstverständlichen geistigen Aufgabe eines jeden Christen. Die Kirche in der Nachfolge Jesu Christi hat die Aufgabe, im Vollzug der Sakramente die spirituelle Botschaft des Evangeliums, also auch die Aufgabe der Caritas, weiter zu tragen.

Nur in einem Land, in welchem der Eremit, der bewusst die Einsamkeit und den Verzicht zur höheren Ehre Gottes sucht, in hohem Ansehen steht, wird sicher die Verteilung der Güter nicht als überaus wichtiges Problem angesehen werden.
 
Darüber hinaus gibt es heute innerhalb der Verwaltung der Kirche eine Abteilung für Entwicklung und innerkirchliche Hilfe. Hier werden nach besten Kräften Entwicklungsprojekte koordiniert und gefördert.

Die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche nimmt ihre soziale Aufgabe nicht durch den Ausbau ihrer Organisationen war sondern in dem Versuch, die sozialen Gebote der Evangelien konkret zu erfüllen. Problematisch gestaltet sich dies in den grossen Städten mit dem Heer der jungen Arbeitslosen, die die Straßen füllen.


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